Fatma lächelte – Eine Marokkoreise

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Fatma lächelte

 Ich stand an der Südküste Siziliens und schaute hinüber zu der fernen Lichthaube über dem Mittelmeer, nach Nordafrika. Sehnsucht nach dem fernen Kontinent stieg in mir auf. Die Fata Morgana gaukelte viele Winter lang vor mir her.

Fatma? Ich habe wieder von Marokko geträumt.

Dann fahren wir endlich, meine Mutti wartet.

Wann?

Im April, da ist es am schönsten.

Aber ich möchte keine Touristenreise, sondern Land und Leute kennenlernen, wie sie sind.

Kannst du haben. – Ich hörte durch das Telefon, wie Fatma lächelte.

Kurz vor der Landung in Tanger überflogen wir die Straße von Gibraltar, nicht mehr als ein Graben zwischen den beiden Kontinenten. Fatmas Neffe Tarik stand am Flughafen und brachte uns ins nahgelegene Tetouan, der weißen Stadt am Rand des Rifgebirges, wo Fatmas Familie lebt. Wir fuhren an Ceuta vorbei, der spanischen Enklave, die von hohen Zäunen umgeben ist. Flimmernde Fernsehbilder vor meinem inneren Auge, Menschentrauben in den Gittern, hochgreifende, sich hangelnde und reckende Eidechsenleiber.

Die Freude leuchtete in Benazirs verwittertem Gesicht, aus dem schwarz umrandete Augen sprühten. Sie umarmte ihre Tochter lange und küsste mich zweimal auf jede Wange. Fatmas Mutti hatte eine heisere Stimme, mit der sie in lautem Arabisch Salven abfeuerte, schimpfte, stritt, sich sorgte, Befehle gab, Witze machte. Dabei wirtschaftete sie in ihrem vierstöckigen Haus herum, treppauf und treppab. Die Achtzigjährige plante einen fünften Stock, der noch vor dem Winter obendrauf gesetzt werden sollte, damit ihr Haus das höchste in der Straße war und sie eine bessere Aussicht hatte. Die Dachterrasse war Benazirs Reich nahe am Himmel. Um ihren Kopf pfiffen die Mauersegler und fingen ihre Beute im Flug, Raben plusterten ihre Flügel auf und ließen sich zwischen Fernsehantennen und Sonnensegeln auf den weißen Mauern nieder. Hier durfte ich sitzen und Benazir lesend Gesellschaft leisten, wenn sie Gemüse putzte und auf einem Campingkocher für die ganze Familie kochte, Butter aus der frischen Milch stampfte, die ihre Schwester ihr vom Heimatdorf gebracht hatte, ihre Orangenbäumchen und Kräuter pflegte, die in Kanistern aufgereiht an der Mauer standen, ihre Hosen, Kleider und Tücher wusch, die weiß, rosa und hellblau von der Leine flatterten. Der Muezzin sang von der nahen Moschee sein „Allahu Akbar“ über unsere Köpfe, vom Meer strich ein salziger Wind herauf, der Himmel spannte sich postkartenblau, mit Schäfchenwolken betupft über uns und leuchtete bei Sonnenuntergang grünlich-orange bis pupurrot.

Benazir trug immer ein Kopftuch aus guter Wolle, je nach Stimmung mal züchtig nach Art der Musliminnen, mal kokett nach hinten gebunden oder verwegen geknüpft wie ein Pirat. Mit Neid beobachtete ich ihre fließenden, harmonischen Bewegungen, wie sie ganz bei sich war, egal ob sie den Boden aufwischte oder den runden Tisch deckte, um den wir alle herumsaßen. Couscous, Hühnchen mit Zitrone und Oliven, gebratener Fisch, den wir vom Markt geholt hatten, Fladenbrot, kleine Schüsseln mit Rote-Beete-Salat, Möhren und frittierten Kartoffeln, hellen und dunklen Oliven bildeten das Mosaik unserer Tafel, von der wir uns mit den Fingern bedienten. Abends machte Benazir uns hauchdünne gedämpfte Nudeln, die sie zu einem Berg auftürmte, dazu gab es zerlassene Butter, Zucker und Zimt.

Fatmas Lieblingsschwester Nour, die die Schönheit ihrer Mutter geerbt hat, nahm mich sofort in den Kreis der Frauen auf und umsorgte mich liebevoll. Wir sprachen Französisch, aber ich konnte auch stundenlang den Gesprächen Fatmas, Nours und Benazirs auf Arabisch zuhören, einem kehligen, von rauhen Lauten durchbrochenen Geschnatter, bei dem sich die Stimmen immer höher schraubten und das entweder in Lachkonvulsionen oder in Schimpfkanonaden Benazirs endete.

Wenn ich allein an den Strand oder ins Städtchen wollte, musste ich mich bei Benazir abmelden, unterwegs rief mich Fatma, der das sehr peinlich war, im Auftrag ihrer Mutter alle fünf Minuten an, ob ich noch da war. Mir wurde schnell klar, dass Benazirs Regime über ihre sechs Töchter und ungezählten Enkelkinder unerbittlich war. Die beiden Söhne nahmen den Platz des verstorbenen Vaters ein. Einmal, als wir unter uns waren, wütete Fatma, weil nach marokkanischem Erbrecht die Brüder wesentlich mehr erben würden als sie und ihre Schwestern.

Lebensmittelpunkt aller marokkanischen Familien ist ein Wohnraum, an dessen Wänden entlang gepolsterte Bänke mit vielen Kissen stehen. Sie sind mit gemusterten, in allen Farben glänzenden Jaquardstoffen bezogen, prächtige, langgestreckte Diwane aus tausendundeiner Nacht. Hier saßen wir zusammen, redeten und aßen, tranken Pfefferminztee, aßen wieder, lachten viel. Benazirs Schwarzweißfernseher war vom Frühstück bis zum Schlafengehen eingeschaltet. Wenn alle Talkshows und Seifenopern gelaufen waren, guckte Benazir noch die Bilder der Hadsch, die auf einem Sender als Endlosschleife liefen. Um den würfelförmigen schwarzen Monolith von Mekka kreiste eine unübersehbare Menschenmenge, herum und herum, eine wirbelnde Spirale, die Benazir in den Schlaf trudelte. Im nächsten Jahr wollte sie wieder so gut auf den Beinen sein, dass sie die alljährliche Pilgerfahrt nach Mekka mitmachen konnte, wie sie es früher schon getan hatte. Inch‘ Allah, sagte sie: Wenn Gott es will. Sie war stolz, eine Haddscha zu sein, eine, die dabei gewesen ist.

Benazir, Fatma und Nour schliefen hintereinander auf der langen Bank im Wohnraum, ich hörte sie ratschen und kichern, bis ich in die Träume fiel, die ich nirgends so farbig und lebendig hatte wie in Marokko, jede Nacht ein Breitwandfilm. Am Morgen weckten mich Benazirs Wortkaskaden, der Duft ihres Kaffees und des frischen Fladenbrotes, das sie vom Bäcker geholt hatte.

Fatma ging mit mir heimlich in den Souk von Tetouan, um Kif zu kaufen. Es gab ihn an einer Reihe von Ständen, in unterschiedlichen Qualitäten und spottbillig, dazu langstielige Pfeifen mit kleinen Tonköpfen. Der alte Verkäufer trug eine Djellaba, er lachte und gab mir einen Zug zum Probieren. Fatma sagte, ich solle auf dem Dach rauchen, wenn Benazir ihren Mittagsschlaf hielt, sie stand Schmiere, damit niemand mich überraschte. Der Himmel war himmelblau, die Mauersegler sangen und die Schäfchenwolken tanzten über den Nachmittagshimmel.

Tarik chauffierte Fatma, Nour und mich nach Casablanca, wo einer der Brüder mit Frau und zwei Kindern lebte, das dritte sollte in diesen Tagen geboren werden. Ich machte mir Sorgen um die Unterkunft, ich wollte meinen Gastgebern ja keine Umstände machen. Bruder Achmed lebte mit seiner Frau Saida und zwei Kindern in einer kleinen Zweizimmerwohnung, für deutsche Verhältnisse war es sehr beengt. Auch Saidas Mutter war wegen der bevorstehenden Geburt zu Besuch, wir kamen zu viert dazu. Ich drang leise in Fatma, ob es nicht in der Nähe ein Hotel gab, in dem wenigstens ich absteigen konnte, aber sie lachte nur mit ihrem Gesichtsausdruck , den ich kannte: Ach, ihr Deutschen.

Achmed zeigte uns die Hassan-II-Moschee, nach Mekka die zweitgrößte der Welt, in der einhunderttausend Gläubige Platz finden. Sie liegt direkt am Meer, ihr Dach lässt sich öffnen und ihr Minarett ist zweihundertundzehn Meter hoch. Der Anblick des grünlich-rosafarbenen Marmorbaus vor der Kulisse des Meeres und der untergehenden Sonne war erhebend, majestätisch, kolossal – ein Monument des Islam, vor dem wir zu Spielzeugfigürchen wurden.

Zu Hause war ein üppiges Mahl zubereitet, das Stunden dauerte. Ailif, die sechzehnjährige Tochter von Saida und Achmed, lief die ganze Zeit zwischen Küche und Wohnraum hin- und her und bediente uns. Erst beim Mandelgebäck setzte sie sich für kurze Zeit dazu, totenbleich und übermüdet. Sie hatte am nächsten Tag Schule und musste früh heraus, erfuhr ich, und wusste immer noch nicht, wo wir alle schlafen würden.

Nach dem Essen – Ailif spülte indessen und räumte die Küche auf – nahmen die Frauen aus einem Kasten einen Stapel gemusterter Tücher und Decken und breiteten sie auf den gepolsterten Bänken aus. In Windeseile entstanden vier bunte Lager, je eins für Tarik, Fatma, die Oma und mich. „Du wolltest unsere Kultur kennenlernen, hier hast du sie,“ sagte Fatma und lachte sich kaputt über mein fassungsloses Gesicht. „Ihr Deutschen mit eurem Bettenkult“, setzte sie nach, „ so ein Theater braucht man doch nicht.“ Nour, Ailif und die kleine Sonya teilten sich eine Matratze, die unter Achmeds und Saidas Ehebett hervorgezogen wurde. Überflüssig zu erwähnen, dass ich, eigentlich eine schlechte Schläferin, schon gar in fremden Betten, in dieser Nacht in Casablanca auf dem Diwan so tief und fest schlief wie schon lange nicht mehr.

Wir fuhren weiter nach Marrakesch, in die Wüstenstadt aus roten Lehmhäusern, die von weitläufigen Palmengärten umschlossen ist. Abends führte uns Tarik zur Attraktion von Marrakesch, den Platz Jemaa el- Fna: Eine archaische Welt mit Getrommel, Schellengeläute und Getümmel, im Kreis tanzenden Männern, die Hühner auf dem Kopf trugen wie Hüte, seltsamen Zwitterwesen, Geigern, Essensverkäufern, Schlangenbeschwörern, Wahrsagern. Müde, zerlumpte Kinder liefen herum und erbettelten Dirhams von den Touristen. In allen Farben schillernde Spielzeugpropeller flogen wie Kolibris durch die Nachtluft, die Bäume am Rand des Platzes waren über und über mit Lichterketten behängt,  Dampfschwaden stiegen von grell erleuchteten Garküchen auf, Datteln und Orangen quollen von den Ständen.  Jemand legte mir eine Schlange um den Hals, die kühl und steif vor meiner Nase herumzüngelte, der Besitzer fordert ein paar Dirhams. Tarik fotografierte mich mit der Schlange und befreite uns dann mit bösen Blicken und arabisch-männlicher Attitude von weiteren Annäherungen der Marktbeschicker. Am Rand des Platzes Frauen ohne Kopftuch, in kurzen Röcken, geschminkt, in herausfordernden Posen. Meine Frage, ob das Prostituierte seien, prallte an Fatmas undurchdringlichem Gesicht ab. Es gibt Dinge, über die man in Marokko nicht spricht.

Am nächsten Mittag aßen wir im Restaurant Aragon, von dessen Terrasse im ersten Stock aus man einen guten Blick auf das quirlige Treiben auf dem Jemaa el-Fna-Platz hatte. Das Zitronenhühnchen mundete uns, wir genossen eine friedvolle Siesta in dem orientalischen Ambiente. Neben uns saß ein französisch sprechendes Paar mit einem zauberhaften Kind, einer Mischung aus dem europäischen Vater und der asiatischen  Mutter. Das Mädchen spielte auf dem Boden aus sauber gescheuertem altem Terracotta, ich konnte mich nicht satt sehen an diesem Bild. Nachmittags fuhren wir zum Abkühlen an den Ourika-Fluss, der aus dem Atlas-Gebirge in die Ebene von Marrakesch herabschäumt und sahen am Horizont das Spitzengewebe des Hohen Atlas mit seinen schneebedeckten Gipfeln vor dem dunkelblauen Himmel stehen.

Fatma sorgte sich manchmal, ob mir gefiel, wie sie mir ihr Land zeigte, oder ob ich mich nicht doch nach einer richtigen Reisegruppe mit Deutschen in kurzen Hosen und fähnchenschwenkender Leitung sehnte, wie wir sie oft bei unseren Städtetouren trafen. Meine Reisegruppe, die sich immer mal wieder um ein paar Nichten erweiterte, trug schwarze Kopftücher und riesige Sonnenbrillen, umschwärmte in den Läden von Marrakesch bis Tanger die Ständer mit orientalischen Hochzeitskleidern und brach, wo sie ging und stand, in lautes Gelächter aus. Ich versicherte Fatma, dass ich die beste und lustigste Reisegruppe hatte, die ich mir vorstellen konnte.

Am letzten Tag machten wir mit Benazir einen Ausflug. Sie kleidete sich in eine hellgrüne Djellaba aus gutem Tuch, die Kapuze wie eine Nonnenhaube festgesteckt. Über Nase und Mund band sie ein dreieckiges weißes Spitzentuch, über dem ihre frisch geschwärzten Augen blitzten. Das Tuch flatterte vor ihrem Mund, da sie ohne Unterbrechung plapperte, bis sie es schließlich nach unten schob. Überhaupt lernte ich einige Techniken kennen, mit denen die arabischen Frauen ihre Tücher feststecken. Viele Stecknadeln gehören dazu, die auf wunderbare Weise zwischen den Faltenwürfen verschwinden und machen, dass alle Tücher  tadellos sitzen.

Beim Abschied weinte Benazir, auch Fatma und ich weinten. Als wir über die Straße von Gibraltar flogen, lächelte Fatma wieder und sagte, sie sei froh, in Deutschland zu leben und nicht ständig unter der Kontrolle ihrer Familie zu stehen. Und sie sei glücklich, immer wieder nach Marokko zurück zu können.

Eine Woche später hörte ich im Radio, dass auf das Restaurant Aragon in Marrakesch ein Terroranschlag verübt worden war, siebzehn Tote, die Aussichtsterrasse, auf der wir gesessen hatten, war vollkommen zerstört. Ich rief Fatma an, die aufgelöst war und mich an das hübsche kleine Mädchen mit seinen Eltern erinnerte, das neben uns gespielt hatte. Abends sah ich im Fernsehen die Bilder der Verwüstung, der Terracottaboden war von Blutlachen bedeckt.

 

 

 

 

 

 

 

 

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