Drei Skizzen zum Missbrauch in den 1950er Jahren

 

Drei Skizzen zum Missbrauch in den 1950er Jahren

I

Meine Schwester und ich sind etwa sechs und acht, als wir in das neue Haus am Nedderend eingezogen sind, der Krieg ist noch keine zehn Jahre vorbei. Es ist aufregend, wenn Mutti und Vati Besuch bekommen, heute sind es Petersens, auf die wir uns immer besonders freuen. Während wir Mutti in der Küche bei der Herstellung von Käseigeln, Nudelsalat und garnierten Schnittchen helfen und beobachten, wie Mutti in dem großen grauen Tontopf mit blauen Relief-Bildern die Bowle ansetzt (eine Dose klein geschnittene Pfirsiche inklusive Saft, zwei Flaschen Weißwein, eine Flasche Cognac, mehrere Esslöffel Zucker), die kräftigen Alkoholgeruch verströmt – schwelgen meine Schwester und ich in Vorfreude. Onkel Petersen ist nämlich Vertreter für Zentis-Bonbons, und er bringt uns jedesmal mehrere Tüten mit. Darin sind nicht nur ordinäre Lutschbonbons aus Zucker, sondern auch mit Creme gefüllte Schokoladenbonbons , manchmal auch mit Nüssen, Krokant oder Nougat, die Krone des Schwelgens.

Meine Schwester und ich kontrollieren immer genau, dass die eine davon nicht weniger bekommt als die andere. Wenn ein Bonbon überzählig ist, bekommt meine Schwester es, sie ist die Ältere.

Wir haben am Samstag gebadet – unser Badeofen in dem kalten Badezimmer wird noch mit Holz geheizt – und haben jetzt unsere Nachthemden an, fleischfarbige, hässliche Ungetüme aus Jersey. Darunter tragen wir einen Schlüpfer, auch aus Jersey und unförmig. Anders würde es nicht gehen, denn Nacktheit ist etwas, das es in unserem Haus nicht gibt. Höchstens in der Badewanne, aber da sorgt der schaumige Belag auf dem Wasser – der, wenn ich als jüngste Schwester endlich in das lauwarme, schon eklig mit einer grauen, fettigen Schicht bedeckte Badewasser einsteigen darf –  alles verbirgt, was an nackter Kinderhaut darunter schwimmt. ie verunglückten Schnittchen, die nicht auf Muttis prächtige ServierManchmal fühle ich, was da unten ist, aber sobald eine mich beobachtende Schwester oder Mutti es merkt, dass ich mich mit dieser Zone beschäftige, ernte ich böse Blicke und ein beredtes, schuldig machendes Schweigen, das meine Hände schnell wieder an die Oberfläche treibt und meine Schuldgefühle anheizt. Manchmal bekomme ich einen Schwall heißes Wasser nachgegossen, dann halte ich es noch eine Weile aus in der Brühe. Als meine Fingerspitzen sich riffeln und ich mich fühle wie ein zu lange gekochter Pudding, steige ich aus dem Wasser und achte penibel darauf, dass der mittlere Bereich meines Körpers immer vom Handtuch bedeckt ist. Schnell das Jersey-Nachthemd und noch schneller den Schlüpfer an, dann gibt es Abendbrot.

Ich mag Petersens, nicht nur wegen der Bonbons. Tante Petersen ist hübsch, sie hat glänzende braune Augen und schwarze Haare, die immer in eleganten Locken ihren Kopf umschweben. Außerdem trägt sie einen knallroten Lippenstift und dazu passenden Nagellack, das beeindruckt mich besonders.  So möchte ich auch mal aussehen, aber da habe ich wohl bei meiner Straßenköter-Haarfarbe und meinen strohigen festen Haaren keine Chance.

Wir liegen vor dem Heizungsschacht, der vom Wohnzimmer in unser Zimmer führt, dadurch kommt nicht nur die warme Luft vom Kachelofen zu uns herauf, sondern auch die Stimmen, die im Wohnzimmer juchzen und sich lebhaft begrüßen.

Nach einem einleitenden Glas Bowle hören wir, wie jemand die Treppe herauf kommt, wir wissen, dass es nun so weit ist. Kurz darauf klopft es und Onkel Petersen steckt seinen Kopf durch die Tür. Er sieht gut aus, gebräunt, er ist auch nicht versehrt wie die meisten Männer, die wir kennen, einer von denen, die im Krieg Glück gehabt haben. Er knistert gleich mit den Bonbon-Tüten und kippt uns das kleine Schlaraffenland aufs Bett. Wie der Schatz in goldenem, silbernem, roten Glanzpapier glitzert und funkelt.

Aber es kommt auch noch was anderes. Bevor Onkel Petersen die Bonbons frei gibt, hebt er unsere fleischfarbenen Nachthemden hoch und ist jedes Mal enttäuscht, dass sich darunter nur die unförmigen Schlüpfer zeigen. Manchmal zieht er an dem Gummi des Schlüpfers und schaut hinein zu dem Unsagbaren, dabei guckt er uns nicht an, sondern gibt uns hinterher einen Klaps auf den Hintern und geht schnell raus.

Vielleicht will Onkel Petersen mal sehen, wie Mädchen aussehen, weil Petersens selbst nur einen Sohn haben? Aber tut man das? Guckt man kleinen Mädchen in den Schlüpfer? Eigentlich denke ich, er darf das nicht, aber bei wem sollten wir uns beschweren?

Über diesen letzten Akt der Bonbonübergabe sprechen wir niemals. Wenn wir sagen würden, dass Onkel Petersen unsere Nachthemden hochhebt, würden wir wohl keine Bonbons mehr bekommen, und die sind das Beste, was unsere kleine 50er-Jahre-Welt, wenige Jahre nach dem großen Krieg, zu bieten hat.

II

Zwischen unserem zehnten und etwa vierzehnten Lebensjahr erleben meine Freundin Tulli und ich zu den Geburtstagen ihrer Eltern immer das Gleiche. Tuchels – Uschi und ihre sehr lieben Eltern – haben endlich ihre kleine Wohnung in der Hamelmannstraße, die sie sich mit einem alten Flüchtlingsehepaar teilen mussten, für sich allein bekommen. Das heißt, meine Freundin Tulli hat endlich ein eigenes Zimmer, worüber wir zwei Freundinnen in der Pubertät besonders froh sind. Hier sitzen wir stundenlang, reden und hören Platten. Ich wüsste gerne, was wir so den ganzen Tag gesprochen haben, ich weiß nur, dass wir ununterbrochen gequatscht haben, stundenlang.

Dann hat Tullis Vati Herr Tuchel, Geburtstag, jedes Jahr im September ist es so weit. Tuchels genießen die größere Wohnung und laden Freunde und Verwandte ein. Es git Kaffee und Torten, hinterher kommen Wein, Steinhäger und Mariacron auf dem Tisch. Allem wird eifrig zugesprochen, dazu erklingen Wiener Walzer und Udo Jürgens. Nachdem die Tortenplatten abgegessen sind, verziehen Tulli (der Spitzname meiner Freundin Uschi, die schon mit dreißig sterben wird) und ich uns in ihr Zimmer. Wir gackern über die Geburtstagsgesellschaft, Tullis Vaddi singt immer Udo Jürgens mit, wofür Tulli sich schämt, die Alten kreischen und juchzen.

Es ist Anfang der sechziger, die Beatles haben die Bühne der Welt betreten und wir spielen ihre kleinen Singelplatten auf Tullis klapprigem Plattenspieler. Do you want to know a secret, She loves you, all diese frühen songs, die in uns ungeahnte Gefühle von Freiheit und Lässigkeit hervorrufen, ja, lässig ist für uns zu dieser Zeit das begehrteste von allen Gefühlen. Es bedeutet: Nicht so steif sein, Gefühle  und  Lebensfreude zeigen, mit wild schlenkernden Gliedern tanzen. Chubby Checker, Let’s twist again. Tulli und ich üben es manchmal in Tuchels Wohnzimmer und ihre Mutti lacht sich kaputt über uns hüpfende und sich verrenkende dünne Wesen in Faltenröcken aus Schottenkaro.

Wir legen unsere Platten wieder und wieder auf, singen mit, kommen gut drauf. Da schiebt sich wie jedes Jahr, Onkel Erich ins Zimmer. Er ist dick, wie zu dieser Zeit alle Männer, trägt ein Nyltest-Hemd unter seinem Jackett und riecht komisch säuerlich und nach Alkohol. Dann legt er das Jackett ab und pflanzt sich im Nyltest-Hemd, dessen einer Ärmel leer und bis zum Ellbogen mit einer Sicherheitsnadel aufgesteckt ist, zwischen uns. Sein Gesicht ist schweißig, er riecht auch danach und ist für uns der Inbegriff von ekelhaft. Er setzt sich ohne zu fragen zwischen uns auf das kleine Sofa, breitet sich immer mehr aus, rückt uns auf die Pelle, beginnt, unsere Schenkel unter den Faltenröcken mit der noch vorhandenen Hand zu betatschen. Er nuschelt etwas aus seinem besoffenen Mund mit ausdruckslosen Fischaugen. Bevor wir uns seinen Griffen entziehen können, ist schon Tante Inge im Zimmer, die Frau von Onkel Ernst. Sie weiß genau, was er hier sucht. Obwohl er seine Hände sofort unter unseren Röcken hervorzieht, reißt die Tante ihn wütend hoch und zieht ihn nach draußen.

Dann kommt TullisMutti herein, sie schimpft über den alten Drecksack, der seine Hände nicht bei sich behalten kann, und guckt, ob bei uns alles in Ordnung ist. Ja, ist es, wir haben unsere Röcke glatt gezogen und legen eine neue Platte auf. Es riecht nach Onkel-Schweiß, bis Tulli das Eau de Cologne ihrer Mutter aus dem Bad holt und das Zimmer mit Duft einnebelt. Wir flüstern, dass er ein alter, geiler Wichser ist und schütteln uns immer wieder. Trotz unserer Versuche, den ekligen Besuch zu vertreiben, bleibt sein Geruch den restlichen Tag im Zimmer hängen.

III

Schützenfest in Petersfehn. Tulli und ich sind gerade vierzehn geworden, wir dürfen jetzt alleine hin. Dörte aus unserer Klasse hat uns eingeladen, wir können auch bei ihr schlafen, die Eltern haben einen großen Bauernhof.

Wir gehen abends nicht vor zehn auf das Fest, wir haben mehrere Stunden gebraucht, um uns dafür herzurichten. Bleiches Make up und schwarzer Eyeliner von Woolworth in Oldenburg, ein hellrosa Lippenstift, rosa Nagellack, eine Wimpernquetsche und Wimperntusche befinden sich in unseren „Kulturbeuteln“, wie man sie damals kurioserweise nennt. Dörte hat ein großes Zimmer, in dem es zwar kalt ist, wir aber auch ungestört sind. Wir tragen schwarze Kleider, die wir auf Mini-Länge abgeschnitten haben, mit roten Strumpfhosen und flachen Ballerina-Schuhen. Die Haare toupieren wir uns mit viel Haarspray zu wilden Mähnen hoch. Dörte, Tulli und ich sehen aus wie Drillinge, nur die Haarfarbe – eine blond, eine dunkel, eine rothaarig – unterscheidet uns.

Dann geht es zur Schützenhalle, aus der schon mit lautem wumpa wumpa die Petersfehner Blaskapelle dröhnt. Drin ist es verqualmt, die Theke ist eng belagert, einige Paare drehen sich in unbeholfenem Bauerntanz. Wir rümpfen die Nase, das ist noch nicht unsere Musik, später soll es für die Jungend Disco geben.

Wir versuchen, an der umlagerten Theke einen Zugang zu finden, um Pinnchen und Bier zu bestellen, vorglühen nennen wir das, um in die richtige Stimmung zu kommen. Das haben andere auch schon getan. Die Bedienungen hinter der langen Theke schuften, ein Tablett mit Pinnchen nach dem anderen wird vollgegossen, Bier wird im Akkord gezapft.

Tulli steht ganz vorne und versucht, mit ihrer Bestellung drei Bier und drei Korn durchzudringen. Da sehe ich „einen von der Sorte“, wie wir sie nennen, mit glasigem Blick und blaurotem, verquollenen Gesicht sich zu meiner Freundin durchdrängeln. Er schafft es, bis er unmittelbar hinter ihr steht. Ein alter Typ, unsympathisch, obwohl ich hinten stehe, kann ich seine Fahne riechen. Er drängelt sich an Uschi, bis sie sich plötzlich empört umdreht und laut schreit: „Der Typ grabscht mich an, iihh!!“

Keiner beachtet ihr Geschrei, die Kellnerin hinter der Theke grinst, der Typ macht einen Satz rückwärts, wobei er fast hinfällt, so betrunken ist er. Durch die kleine Bresche, die durch Tullis Geschrei vor der Theke geschlagen ist, schnappen wir uns unsere Gläser und ziehen uns in eine Ecke der Schützenhalle zurück, wo sich die Jüngeren eingerichtet haben, die gelangweilt mit dem Fuß zu der Blaskapelle wippen und auf den Beginn der Disco warten. Wir sehen den Rotgesichtigen, wie er sich wieder anschleicht, ein nächstes Opfer beugt sich über die Theke, wutsch patscht er seine Hand auf ihren Hintern. Das Mädchen dreht sich um und gibt ihm eine Ohrfeige, wir grinsen triumphierend. Er ist so sauer, dass er versucht, auf das Mädchen loszugehen, davon halten ihn andere Thekensteher ab. Das Mädchen kommt zu uns in die Jugendecke, sie weint fast und schüttelt sich vor Ekel über den alten Kerl.

Wir sehen, wie er wieder Anlauf auf die Theke nimmt. Niemand hindert ihn daran.

 

 

 

 

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