Die erste Erinnerung: Sonntagnachmittag in meinem Elternhaus am Nedderend in Oldenburg, ich gehe noch nicht zur Schule. Nach dem Kaffeetrinken zieht mein Vater sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er nimmt die Abdeckung von seiner schwarzen Schreibmaschine und beginnt zu schreiben, Fachartikel für eine landwirtschaftliche Zeitung. Darin steht dann unter der Überschrift meines Vaters Name: Von Karl Schuler. Darauf bin ich stolz.
Die Schreibmaschine klackt laut und rhythmisch, die Stangen mit den Buchstaben sausen auf und nieder. Mein Vater hackt mit großer Geschwindigkeit, dreht Blatt für Blatt mit Durchschlägen über die Walze in den Schlund der Maschine hinein. Ich sitze hinter ihm und muss leise sein, damit er sich konzentrieren kann. Ich beneide ihn um die Versunkenheit in diese Tätigkeit, es gibt nur ihn und das rasende, sich überschlagende klackklackklack der Maschine. Und die Papierbögen, die sich bald säuberlich beschrieben auf dem Schreibtisch stapeln.
Für mich türmen sich vor den Wörtern Hürden auf. Ich bin noch nicht ganz sechs, als ich in die Grundschule Bürgerfelde komme. Unsere Lehrerin heißt Fräulein Baier, wir sind fünfzig Kinder, die dicht an dicht an Zweiertischen vor ihr sitzen.
Buchstabieren kann ich bald, aber das Zusammenfügen zu einem Wort will nicht klappen. Wenn die Klasse mit Stillarbeit beschäftigt ist, holt Fräulein Baier einzelne Kinder nach vorne und übt mit ihnen. Sie hat zwei Sorten Bonbons auf dem Tisch liegen, kleine weiße Pfefferminzdrops und größere Schokoladenbonbons, die in rotes Glanzpapier gewickelt sind. Sie werden je nach Leistung vergeben. Eines Tages darf ich nach vorne kommen, es muss doch mal klappen mit dem Lesen. Fräulein Baier zeigt mit dem Finger auf die einzelnen Buchstaben, ich ziehe sie mühsam zusammen.
Da macht es „Bling“ in meinem Kopf, den Moment erinnere ich bis heute. Ich kann es, ich sehe Wörter und kann sie nacheinander aussprechen. Ich kann lesen, es ist ein Wunder, und gehe selig mit dem roten Glanzpapierbonbon an meinen Platz zurück.
Ab da lese ich alles, was mir unter die Finger kommt. Die Zeitungen, die meine Eltern abonniert haben, die Werbesprüche an den Litfaßsäulen, die Buchrücken im Bücherschrank. Dann die Bücher: Grimms und Andersens Märchen, die Nesthäkchen-Bücher, Pippi Langstrumpf, Hanny und Nanny, die Märchen aus 1001 Nacht.
Ich träume davon, mein Leben mit Schreiben zu verbringen. Am Anfang ist es eher der Vorgang, so konzentriert allein vor einer Schreibmaschine zu sitzen wie mein Vater, unter dem Klackern der Maschine die Blätter zu füllen, mit rasenden Fingern, aus denen die Texte fließen wie von selbst.
Meinen zweiten Traum, nach der zehnten Klasse auf das Gymnasium zu wechseln und später Literaturwissenschaften zu studieren, macht meine Mutter zunichte. An der Schwelle zu meinem Erwachsenendasein kämpfe ich mit ihr einen erbitterten Kampf um die Rolle, die ich im Leben einnehmen soll. Sie verteidigt bis aufs Messer das Modell, nach dem sie selbst sich richtet: Der Platz der Frau ist im Haushalt und bei den Kindern. Studierte Weiber, sagt sie, hätten in unserer Familie nichts zu suchen.
Vollkommen ratlos, was ich mit meinem Leben anfangen soll, nehme ich den vorgezeichneten Weg, Heirat und Schwangerschaft, ich habe mit neunzehn ein Kind. Ich frage meinen Mann, ob ich aufs Abendgymnasium gehen darf, was er rundweg ablehnt. Damals, um 1970, ermächtigt ihn sogar das Gesetz noch dazu, und meine Erziehung ist schuld, dass ich es mir gefallen lasse. Ich melde mich zu einem Französischkurs an, das erlaubt er und passt zweimal in der Woche auf das Kind auf, ungern und mit schlechter Laune. Bei einem Eklat kurze Zeit später gebe ich nicht nach. Wir wohnen sehr beengt und mein Mann baut unsere Möbel, unter anderem auch einen breiten Schreibtisch, der einen großen Raum einnimmt. Dann eröffnet er mir, das sei sein Schreibtisch. Auf die Frage nach meinem Arbeitsplatz zuckt er mit den Schultern, vielleicht am Küchentisch. Dann holt er sein Zeichenbrett und sagt, das könne ich mir zum Schreiben doch auf die Knie legen. Da ist der Ofen aus. Brüllend und fauchend erkämpfe ich mir mein Recht auf den halben Arbeitstisch. Von einem Zimmer für mich allein à la Virginia Woolf bin ich noch weit entfernt.
Mein Schreibwunsch liegt für lange Zeit auf Eis, mit bald zwei Kleinkindern bin ich froh, wenn ich Zeit zum Lesen finde. Am liebsten amerikanische Autor*nnen: Carson Mc Cullers, T.C.Boyle, Joyce Carol Oates, Richard Ford, Toni Morrison, Louise Erdrich, Phillip Roth und viele andere. So wie sie möchte ich schreiben können, Romane, tolle Geschichten, aber ich weiß nicht, wie das gehen soll. Manchmal mache ich zaghafte Versuche in einer Kladde, aber es kommt nichts dabei heraus. Als die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind, trenne ich mich von meinem Mann und beginne nach einer Begabtensonderprüfung ein Lehramtsstudium. Mein Vater schenkt mir eine elektrische Schreibmaschine. Welch ein Luxus, nur die Buchstaben antippen zu müssen, alles schreibt sich wie von selbst. An der Uni arbeite ich als studentische Hilfskraft und katalogisiere Bücher mit einer IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine, das ist für mich wie Mercedes fahren. Nach Abschluss des Studiums gibt es kaum Aussichten, in den Schuldienst zu kommen. Das nehme ich als Omen und mache ein Volontariat als Journalistin in einer Zeitungsredaktion. Diesen Beruf übe ich gerne aus und er ernährt mich viele Jahre.
Meine Kinder werden flügge, ich habe Zeit zum Ausprobieren. 1988/89 schreibe ich mein erstes Buch, ein journalistisches Thema über den Prozess gegen eine Krankenschwester, die Patienten getötet hat. Ich habe meinen ersten Computer gekauft, wenn er nicht gerade abstürzt, sitze ich vor dem Bildschirm und fülle die Seiten, immer wieder stellen sich Schreibflows ein. Das will ich machen, es gibt nichts Besseres.
Ich schreibe meinen ersten Roman und schicke ihn an Verlage. Ich bekomme entweder gar keine Antwort oder Absagen. Eine Lektorin schreibt, mein Manuskript lasse Talent erkennen. Das genügt mir, um weiterzumachen.
Ich schreibe meinen ersten fiktionalen Krimi und erlebe das Wunder, dass die Figuren der Geschichte, nachdem ich sie entworfen habe, ein Eigenleben entwickeln und die Handlung vorantreiben, ich muss nur hinterher schreiben. Danach folgt „Türkischrot“, wieder schreibt sich die Geschichte nach ausführlicher Recherche fast von allein. Ich beginne zu ahnen, dass ich mich auf den Fluss meiner Ideen und Gedanken verlassen kann und mein innerer Speicher quasi unerschöpflich ist, wenn ich nur konsequent arbeite. Es folgen weitere historische Krimis, bevor ich mich an das Mammut-Projekt „Else blau“ setze, einen biografischen Roman über die Dichterin Else Lasker-Schüler. Vier Jahre brauche ich dafür. Ich lese ihr gesamtes Werk, tausende von Briefen, Biografien und Aufsätze und schreibe über das dramatische, überbordende, tragische Leben dieser Künstlerin, deren Kindheit in Elberfeld sich quasi vor meiner Haustür abgespielt hat. Ich bekomme eine ansehnliche Förderung von der Stadtsparkasse, sodass ich eine Zeitlang ohne finanzielle Sorgen schreiben kann. „Else blau“ erscheint dann in einem kleinen regionalen Verlag, die Verkaufszahlen sind nicht hoch, aber ich habe viele Lesungen mit positivem Feedback.
So ist das mit der Schreiberei: Sie bringt zwar kaum Geld ein, aber manchmal kommt jemand auf der Straße auf einen zu und bedankt sich für das schöne Buch. Das geht mir mit „Else blau“ mehrmals so, auch mit „Türkischrot“, das einen hohen Bekanntheitsgrad und eine gute Auflage erreicht. „Ach, Sie sind das,“ sagen die Leute, wenn ich mich als Autorin des Buches vorstelle, „das habe ich verschlungen und schon mehrmals verschenkt.“
Reicht einem das? Ich weiß es nicht. Natürlich will man nicht nur bekannt sein, sondern auch Geld verdienen. Man träumt davon, es auf die Spiegel-Bestsellerliste zu schaffen, was natürlich Illusion bleibt.
Das Schreiben ernährt mich dennoch. Ich lerne die wunderbaren Methoden des Creative Writing kennen und unterrichte sie in Schreibgruppen und Lehraufträgen. In den Übungen sehe ich, wie die Teilnehmer*innen beim Schreiben zu lächeln beginnen und mit Schwung und ohne Blockade die schönsten Texte schreiben, als würden sich Blüten öffnen.
Ich biete Schreib- und Erzählworkshops in Schulen an, ein weiteres Feld, das mir Spaß macht und Honorare einbringt. Es folgen weitere Buchmansukripte, aber es wird immer schwieriger einen Verlag zu finden. Viele Kolleg*innen bringen jetzt ihre Bücher mit Druckkostenzuschuss heraus, das heißt, sie bezahlen die Verlagsarbeit, Druck und Werbung selbst. Dazu habe ich weder Lust noch Geld. So konzentriere mich auf kürzere Textformen, die für mich eine neue Erfahrung sind, und arbeite manchmal monatelang daran. Ich setze sie auf meine homepage, mehrmals komme ich auch in die Literaturzeitschrift „Karussell“ und stelle die Geschichten auf Lesungen vor.
Schreibblockaden gibt es immer wieder, manchmal dauern sie Monate. Das sind keine guten Zeiten. Dann sitze ich vor einer Mauer und weiß nicht, wie ich drüberkommen soll. Die Schreibratgeber sagen: Weiterschreiben, über die Blockade schreiben, sich Frust von der Seele schreiben.
Ich habe begonnen, Geschichten aus meiner Kindheit und über wichtige Stationen in meinem Leben zu schreiben. Die Blockade ist wie weggeblasen, immer wieder komme ich in Schreibflows. Auf meinem Laptop habe ich den Ordner „Biografisches Projekt“ eingerichtet, der sich mit Geschichten füllt. Je intensiver ich daran arbeite, umso deutlicher und genauer werden die Erinnerungen. Möglicherweise entsteht schon wieder der Grundstoff für einen Roman. Dieser Text über meine Schreibentwicklung kommt auch in den Ordner. Ich sitze versunken und konzentriert vor der Maschine, die Texte fließen mir aus den Fingern. Nur hackt und klackt es nicht mehr, wie früher bei meinem Vater. Wenn es gut läuft und die Sätze zu Melodien werden, klingt die Tastatur meines Laptops wie das Trippeln von Engelsfüßen.