Im Moor
Oh schaurig ist’s übers Moor zu gehen… Das Gedicht kannte ich aus dem Gedichtbuch meiner Mutter, es wurde oft zitiert, vor allem, als mein Vater ein Moorgebiet mit Fischteichen in der Nähe von Oldenburg pachtete. Dort verbrachte er fortan die Samstagnachmittage und Sonntagvormittage. Er pflegte das Gelände, ließ die beiden Teiche, die langsam verlandeten, ausbaggern und setzte Fische ein, Schleien und Karpfen, die mein Vater angelte, wenn sie gewachsen waren. Er brachte die schleimigen toten Fische mit nach Hause und ich verzog mich, weil ich sie nicht riechen konnte. Einmal brachte er einen riesigen Karpfenmit, der so alt war, dass er Moos auf dem Rücken hatte. Mein Vater brachte es nicht fertig, ihn zu schlachten, außerdem wollte niemand von uns (ich sowieso nicht) diesen alten Karpfen essen. So kam er in unsere Badewanne, in der er mehrere Wochen herumschwamm und wir ihn mit Brotkrumen fütterten, bis sich eine Familie aus der Nachbarschaft erbarmte und zum Weihnachtsessen Karpfen blau auf den Tisch brachte. Wir waren froh, dass wir endlich wieder in die Wanne konnten.
Manchmal fragte Vati, ob ich mit wollte zu den Teichen im Moor. Das löste widerstreitende Gefühle in mir aus, weil es einerseits mit der Aussicht verbunden war, Vatis liebstes Kind zu sein, wenigstens für diesen Ausflug. Andererseits musste ich warten, bis er mit dem Angeln fertig war. Das konnte ein paar Stunden dauern, in denen ich mir die Zeit vertreiben musste. Eine Weile saß ich dann bei ihm auf der Bank und beobachtete die Himmel und Wolken wiederspiegelnde Wasserfläche, über die Myriaden von Mücken stoben und Libellen ihre Kurven zogen wie Zwergenhubschrauber.
Mein Vater warf mit weitem Schwung die Angel aus, an deren Haken sich ein Regenwurm krümmte, einer von denen, die wir am Morgen im Garten gesammelt hatten und die mir leid taten, wenn sie durchbohrt wurden. Man musste aufpassen, dass man aus der Reichweite der schleudernden Angel kam, damit man nicht selbst den Haken irgendwo hängen hatte. Dann das Beobachten des blinkenden Schwimmers, der auf dem Wasser tanzte, bis er plötzlich abtauchte und mein Vater wie verrückt die Kurbel an der Angel drehte, um die Angelschnur einzuholen. An der Krümmung der biegsame Rute und seiner Anstrengung, sie herauszuziehen, war schon die Größe des Fisches abzuschätzen. Das ist ein Kapitaler, sagte er dann mit leuchtenden Augen, und besonders stolz war er, wenn es ein Hecht war, ein Raubfisch, der als besondere Delikatesse galt und den meine Mutter im Ofen buk. Schlagend und schäumend kam das Opfer an die Oberfläche, ein silbriger Leib wand sich und peitschte das Wasser auf. War der Fisch nahe genug, nahm mein Vater seinen Käscher und holte das kämpfende Tier heraus. Ein Schlag mit dem Messer und ein Stich in die Kiemen, dann lag die blausilbern schimmernde Leiche noch zuckend vor uns. Mein Vater schnitt sie mit geschickten Handgriffen auf und weidete sie aus. Blutiges, schleimiges, stinkendes Zeug holte er aus dem Fischbauch. Mir wurde übel davon und er lachte über mein Gesicht. Er gab mir die Schwimmblase, die, nachdem er sie im Wasser des Teiches abgespült hatte, weiß und rein war.
Um die Teiche herum konnte man nicht einfach loslaufen und die Wege verlassen, denn wir befanden uns im Hochmoor. Was das bedeutete, bekamen wir immer wieder eingebläut: Das Moor konnte einen verschlingen, das wussten wir aus dem Lieblingsgedicht meiner Mutter, das schaurige Moor, wo wie Phantome die Dünste sich drehn und die Ranke häkelt am Strauche. Der Tod im Moor war langsam und grausam. Wenn es einen einmal gepackt hatte, wurde man unaufhaltsam hineingesogen, … wenn aus der Spalte es zischt und singt…, immer tiefer, bis man schließlich ganz weg war und der schwankende Boden sich über einem mit saftigem Schmatzer schloss. Ich stellte mir vor, dass die zappelnden Hände noch eine Weile zu sehen waren, bis sie Finger für Finger ebenfalls in dem braunen Schlamm versanken. Im Oldenburger Heimatmuseum war eine Moorleiche ausgestellt, eine kleine Frau in einem Sarg, verschrumpelt und ausgemergelt wie ein trockenes Stück Torf. Ihre Gesichtszüge waren nur zu ahnen, ein rotblonder Schwall glänzenden Haares floss über ihren Kopf.
Ausreichend mit den Gefahren des Moors vertraut, blieb ich, wenn Vati zu lange angelte, auf den Sandwegen, die von Büscheln aus sichelscharfem Gras, Kuh- und Butterblumen bestanden waren, Gänseblümchen bilden kleine Inseln. Von dieser Bastion aus konnte ich das Moor aus nächster Nähe betrachten, ein von vielerlei Moosen schwellendes Kissen, mit Wasserperlen übersät, ein lebender, atmender Prunkteppich der Natur. In der Sonne schillerte das Wasser in den Farben des Himmels, die Ränder der Teiche waren mit Lampenputzern bewachsen, einem Rohrgewächs mit zigarrenartigen, braunen, pelzigen Blütenständern. Sie standen jahrelang bei uns zuhause in einer Bodenvase und wurden manchmal von der Mutter abgestaubt. Überall sprossen Erlen, Birken und Ebereschen, an deren sich langsam rötenden Früchten man die Jahreszeit ablesen konnte, überall Gesumm und Gebrumm, Gezwitscher und Getschilpe. Der Chor der Vögel, vielstimmig und schräg. Sie flatterten ihr Revier ab, sangen aus den Bäumen Botschaften und Lieder. Mein Vater wusste von allen die Namen.
Die Stellen, an denen der Sonnentau wuchs, kannte nur er. Wenn er einen guten Fang gemacht hatte und mehrere silbrige Leichen im Eimer umeinander glitschten, nahm er mich an die Hand und führte mich zu dem fleischfressenden Ungeheuer. Sanft und harmlos schmiegten sich die rosa Köpfchen ins Moos, glitzernde Tautröpfchen hingen an den winzigen Tentakeln und lockten die Opfer mit Honigduft. Manchmal sahen wir, wie ein Insekt die klebrige Falle anflog, darin hängen blieb und von der kleinen Mordmaschine langsam verschlungen wurde. Oh schaurig ist’s, übers Moor zu gehen…
Auf dem Rückweg fuhren wir manchmal durch ein Gebiet, in dem Torf gestochen wurde. Es war eine endlose braune Landschaft, die von Entwässerungsgräben durchzogen war. Männer mit speziellen scharfen, langen Torfspaten stachen exakte Quader wie große Butterstücke aus dem weichen Moor. Sie wurden zum Trocknen versetzt übereinander zu Mauern aufgeschichtet. Überall lagen schmale Schienen mit Loren darauf, in denen der getrocknete Torf abtransportiert wurde.
Viele Jahre später, ich bin in den Vierzigern und Vati ist alt. Nach einem Schlaganfall, den er mit 75 Jahren bekommt, kann er nicht mehr sprechen. Er, der als Dauerredner jede Situation beherrschte, ist plötzlich verstummt und muss über seine Augen kommunizieren. Jetzt sieht man, welche Gefühle er hat. Man muss erraten, was er sagen will, wenn er einzelne Worte, die er noch kennt, stammelt oder auf etwas zeigt. Seine vier Töchter benennt er, indem er seine Finger hochhält, einen für die erste, zwei für die zweite und so weiter. Meine Mutter ist empört, weil er noch Schimpfworte weiß, die sie an den Kopf bekommt, wenn er wütend ist. Das macht er allerdings nur, wenn von uns keiner da ist.
Als meine Mutter ins Krankenhaus muss, besuchen wir ihn abwechselnd, sodass immer jemand da ist. Ich fahre mit ihm ins Moor, das ist seine Freude. Wenn wir auf dem Weg zu den Teichen laufen und eine Vogelstimme zu hören ist, hebt er den Zeigefinger und guckt mich fragend an. Ich muss raten – ein Fink, eine Meise, eine Amsel, ein Gimpel, eine Bachstelze – und liege meistens daneben. Dann hebt er den Finger so lange, bis ich den richtigen Vogel getroffen habe. So geht es eine ganze Weile und er wiederholt seine Lektion und ist erst zufrieden, wenn ich auf Anhieb den richtigen Vogel weiß. Im Gegensatz zu früher ist er immer lieb zu mir und schenkt mir oft Geld. Ich habe das Gefühl, dass er etwas gutmachen will, das früher versäumt wurde. Wir setzen uns auf die Bank, seinen früheren Angelplatz, und schauen auf das Wasser, in dem sich der Himmel spiegelt. Myriaden von Mücken stieben und Libellen ziehen ihre Kreise wie Zwergenhubschrauber.