Mit Sicherheit war sie oft ein Ekel, ein anstrengender, schwieriger Mensch. Sie wusste das und nahm es ausdrücklich für sich in Anspruch. Geltungssüchtig konnte sie sein, unruhig, egozentrisch, sprunghaft, voller Launen. Heute würde man vermutlich ADS diagnostizieren. Auf der Suche nach einem neuen Thema – etwas Biografisches sollte es sein, mehr wusste ich noch nicht – erschien sie mir am Anfang wie ein Schemen. Die Kontur einer Frau mit dunklen Haaren wurde immer deutlicher, dann stand sie vor mir: Else Lasker-Schüler aus Elberfeld, aufgewachsen quasi in meiner Nachbarschaft, die, wie ihr zeitweiliger Liebhaber Gottfried Benn später sagte, größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte. Ihr Leben war reicher und bunter, als ein Roman es jemals sein könnte, ein filmreifes Zeitpanorama von der Kaiserzeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Schillernd, spannend, vor Leben sprühend, aber auch voller Tragik, Angst, Verwirrung, Verfolgung, Not und Tod.
Als ich anfing, mich dieser Figur zu nähern, wohnte ich in der Marienstraße in Elberfeld, wo ihr Vater Häuser besessen hatte, und ich sah während des Schreibens die kleine Else an seiner Hand den Berg hinaufspringen. Vier Jahre habe ich mich durch ihr Leben und ihr Schreiben gewühlt, staunend, verblüfft, atemlos. Was für eine Protagonistin! Wie stark sie war, diese kleine Person, wie konsequent, auch im Scheitern. Nimmermüde, in ständiger Existenznot, überzeugt von sich und voller Hoffnung auf den ganz großen Erfolg, der sich zu ihren Lebzeiten nicht einstellte. Ich grub mich in ihre Lebensgeschichte, in der sich Höhen und Tiefen abwechselten, mit schroffen Übergängen. Ihre Sprachschöpfungen transzendierten oft die Grenzen des Sagbaren, ihre Wortgebirge mussten erklommen werden und belohnten mit überwältigenden Panoramen. Manchmal, vor allem beim Lesen ihrer Briefe, aber auch bei gewaltigen Dichtungen wie das „Das Hebräerland“ oder „Der Wunderrabbiner von Barcelona“, dachte ich: Jetzt hat sie sich verstiegen, jetzt geht es nicht weiter. Ich irrte mich immer. Am Ende standen wieder großartige, weit ausholende Kompositionen da, in sich geschlossene Oratorien, filigrane Symphonien. Ihre Gedichte Juwelen der Sprache und des Gefühls. Treue Freundschaften hatte sie, von denen manche lebenslang dauerten, ein auf und ab von Streits und Versöhnungen. Ihr Zorn, wenn sie zum Beispiel den Freund Franz Werfel als „geizigen Schmuser“ beschimpfte oder eine gewisse Eugenie Schwarzwald, die ihren Sohn Paul kritisiert hatte, kurzerhand ohrfeigte. Sie habe dagegen nichts tun können, rechtfertigte sie sich, ihre Hand sei wie von fremder Macht geführt worden.
Ihr Mut, sich zum Kasper zu machen, zum Spieler in einem Hänneschen-Theater, zum dummen Aujust. Ihre Liebesmaskeraden in „Mein Herz“ und „Der Malik“ – Geschichten aus dem Tollhaus Berlin, Geschichten aus ihrem Herzen und dem bunten Land, das sie als Herrscherin der Teerosen bewohnte.
Ihr Mut, 1899 ein Kind zu bekommen und den Vater nicht zu nennen, diesen schwierigen Sohn, der nicht erwachsen werden konnte und mit achtundzwanzig an Tuberkulose starb. Die zahllosen Bettelbriefe, die sie schrieb, um seine Behandlung in Schweizer Sanatorien bezahlen zu können. Und auch sonst, wenn mal wieder Not herrschte, der Bosporus ausgetrocknet, die Feierkleider verschlissen waren und Prinz Jussuf neuen Hofstaat brauchte. Oder auch eine Dampfmaschine für den Sohn Paul, den sie ihren Bruder Bulus nannte, der niemals unter der Geldnot seiner Mutter leiden sollte und es dennoch tat.
Die zahllosen Liebesbriefe, mit denen sie junge Männer bedachte, die sie – Federn und Pfeile steckten stets im Gürtel – zu Indianern erhob und in ihren Kraal einlud. Vorzugweise waren es junge Maler oder Philosophen, denen sie ihr Herz, ihren Schmerz, ihre Liebe, ihre Ängste, ihre Phantasien vor die Füße kippte, sie mit ihrem „unerhört holden Doldengerank“ zu betören versuchte. Ihr Liebeswerben konnte brutal sein, übergriffig, peinlich. In Jerusalem verlachte man die komische Alte, die sich auf dem Bürgersteig niederließ und mit den Ameisen spielte. Und dazu noch dem dreißig Jahre jüngeren Ernst Simon in aller Öffentlichkeit huldigte, ihm die schönsten Liebesgedichte und hunderte von Briefen schrieb, kompromisslos, peinlich bis zur Lächerlichkeit, schmerzhaft direkt, voller Poesie. Um ihr Volk zu retten, schrieb sie flehentliche Briefe an Mussolini, Stalin und den Papst.
Die ekelhaften, demütigenden Berichte der sie bespitzelnden Kontrolldetektive im Schweizer Exil, die sie für verrückt hielten und beschuldigten „unsauber“ zu sein. Die sie ohne Skrupel den nationalsozialistischen Mördern ausgeliefert hätten, die die über Siebzigjährige nach Kriegsbeginn nicht mehr in die Schweiz einreisen ließen, sodass sie in Jerusalem bleiben musste. Ihre Schwärmerei für Paolo Pedrazzini, einen Schönling und Cafébesitzer aus dem Tessin, dem sie regelrecht auflauerte und die Blume an seinem Revers erbettelte. Da war sie Mitte sechzig, hatte sich aber vor den Behörden deutlich jünger gemacht, was einmal mehr zu Irritationen über ihre Erscheinung führte.
Ihre Trauer, ihr Witz, ihre Gläubigkeit, ihr fanatisches Gerechtigkeitsgefühl. Die Würde und Größe, mit der sie die Bürde ihrer Begabung trug, ihre Demut vor Gott. Ihre Hellsichtigkeit, ihre Visionen, die sie erschreckten und trösteten. Ihr Standhalten gegen die Nazis, ihr Plan, Hitler und seine Schergen mit Hilfe von rituellen Tänzen und Beschwörungen zum Teufel zu jagen. Ihre Kraft. Ihre Liebe. Ihr nimmermüdes Eintreten für Versöhnung und Gerechtigkeit. Ihre Sorge um die Schwächsten.
Nach Erscheinen meines Romans „Else blau“ fahre ich 2014 nach Jerusalem. Das ergibt sich auf so wunderbare Weise, dass ich das Gefühl bekomme, sie habe ihre Hand im Spiel. Ich darf ihren Nachlass in der National Library of Israel ansehen, handgeschriebene oder getippte und von der Hand der Dichterin korrigierte Manuskripte, ein hellblaues Herz und grüne Ohrringe aus Halbedelsteinen, ein silbernes Lorgnon mit ziseliertem Griff, ein goldenes Ührchen. Auch handgestrickte und -genähte Täschchen, vielleicht für ihren Krimskrams und ihre Bonbons. Die Aura ihrer persönlichen Dinge – unbeschreiblich.
Ich besuche Elses Ruhestätte auf dem Ölberg in Jerusalem, in die sie umgebettet wurde, als das ursprüngliche Grab einer Straße weichen musste. Die Dichterin liegt nun in der Nähe der Friedhofsmauer am oberen Rand eines weiten, sanft abfallenden, unsagbar schönen Tals. In goldkuppelbeglänzter Pracht liegt ihr die Heilige Stadt zu Füßen. Neben dem Grab, unter einem Olivenbaum, liegt die Matratze des Friedhofswärters, der sich an ihrer Seite zur Ruhe legt. Wie tröstlich, sie in der Nacht und in der Ewigkeit nicht allein zu wissen.