Er war allgegenwärtig in meiner Kindheit, überall waren seine Spuren, er lag als dunkles Tuch über uns. Ungezählt die Seufzer meiner Mutter: Der Krieg, der schreckliche Krieg.
Hinaus in die Ferne mit Butterbrot und Speck/ das ess ich so gerne, das nimmt mir keiner weg/und wer das tut, den hau‘ ich auf den Hut/ den hau‘ ich auf die Nase bis dass es blut‘.
Dieses Lied sangen unsere großen Schwestern, wenn die Eltern nicht zu Hause waren. Sie setzten uns Kleine in die Badewanne, sperrten die Tür ab und rissen sie wieder auf, um uns, gruselig mit Tüchern und mit dem Motorradhelm unseres Vaters verkleidet, zu erschrecken. Dabei plärrten sie immer wieder das Lied, bei dem ich Blutströme die Wand hinunterlaufen sah.
Über die Umgehungsstraße vor unserem Haus fuhren oft lange Militärkolonnen, das war der Engländer, der uns besetzt hatte. Ich stand mit meiner Mutter in unserer Haustür, die von einer tiefblauen Clematiswolke überwuchert war. Oben auf der Böschung rollten Militärfahrzeuge in einer langen Kolonne. Es waren offene Lastwagen mit Planen, man sah junge Männer in olivgrünen Uniformen darin sitzen, die uns Kindern oft freundlich zuwinkten. Krieg ist was Schreckliches, sagte meine Mutter, wenn sie vorbeirollten, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie grausam der Krieg ist.
Viele Häuser waren kaputt oder halb kaputt mit offenen Seitenwänden. Man sah Waschbecken an der Wand hängen, gemusterte Tapeten, Toiletten. Ich hatte noch keine Vorstellung davon, dass Bomben in die Häuser gefallen waren, die alles in Brand gesteckt hatten, abgeworfen von Flugzeugen, die in der Nacht über den Himmel heulten. Meine großen Schwestern haben das ertragen müssen, eine ist kurz vor dem Krieg geboren, die andere mittendrin. Sie wissen noch, wie man nachts in den Keller stürzen musste, wenn es Fliegeralarm gab.
Als mein Vater aus dem Krieg zurück kam, war er für sie ein fremder Mann, an dessen Gegenwart sie sich erst gewöhnen mussten. Meine älteste Schwester, die kurz vor dem Krieg geboren wurde und bei seiner Beendigung acht Jahre alt war, musste kurz nach Kriegsende mehrmals mit unserer Mutter die Grenze zur sowjetischen Zone überqueren. Mutter brachte Tafelgeschirr und Tischwäsche aus dem Restaurant der Großeltern in den Westen nach Oldenburg, denn es drohten Enteignungen durch die neue Staatsführung. Sie nahm bei diesen Grenzgängen immer meine älteste Schwester mit, als Schutz vor den Russen, von denen es hieß, dass sie Frauen mit Kindern in Ruhe lassen würden. Einmal, erzählt meine Schwester, hätten russische Soldaten unsere Mutter und sie angehalten und die Mutter am Arm gepackt, da habe sie geschrien wie am Spieß und die Russen hätten beide laufen lassen
Ende der 50er Jahre, ich ging in die Realschule und hatte meine Freundin Gisela gefunden. Sie hatte sehr liebe Eltern, die, wie viele in der Nachkriegszeit, ihre ohnehin kleine Wohnung mit einem Flüchtlingsehepaar teilen mussten. So wohnte die dreiköpfige Familie in einer winzigen Küche, in der auf einer Liege abends das Bett für Gisela gemacht wurde, und einem vollgestopften kleinen Wohnzimmer, in dem die Eltern nachts die Klappcouch zum Schlafen auszogen Jeder Quadratzentimeter dieser winzigen Behausung war vollgestellt, Giselas Mutter musste ständig räumen und Sachen umschichten, damit man sich einigermaßen wohlfühlte. Die andere Hälfte der Wohnung bewohnte ein älteres Ehepaar, mit dem sich Giselas Eltern nicht verstandenh. Die beiden Parteien teilten sich ein Bad, und die Vorstellungen von Sauberkeit waren unterschiedlich. Ich erinnere mich an das Glück von Giselas Mutter, als das Ehepaar endlich auszog, sie und ihr Mann ein Schlafzimmer und Gisela ein eigenes Zimmer bekam. Auch das, die große Wohnungsnot in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, war eine Kriegsfolge.
Gisela hatte eine Oma, die wir manchmal besuchten. Sie wohnte am Stadtrand in einem barackenartigen Häuschen, hatte Kaninchen- und Hühnerstall und einen großen Garten. Die Oma war ganz dünn, immer schwarz gekleidet und hatte weiße Haare. Auch ihr Gesicht war sehr weiß und eingefallen, ihre Züge wie eingefroren. Ich erinnere mich, dass ihr Rücken sehr gerade war. Giselas Mutti erzählte, dass sie zehn Brüder hatte, von denen sieben nicht aus dem Krieg zurückgekommen waren. Sie hatte sieben Brüder und ihre Mutter sieben Söhne verloren.
Unsere Nachbarn waren Winklers, zwei Mädchen und Tante Winkler. Der Vater war noch in Gefangenschaft. Wir hatten Illustrierte abonniert, bei uns Mappen genannt – jahrelang kam jeden Dienstag der Mappenonkel und die Zeitungen der letzten Woche mussten auf dem Treppenabsatz bereitliegen. Es gab die Quick und die Kristall, das Neue Blatt, den Spiegel, den Stern, die Bunte, Für Sie. Darin war viel von Heimkehrern die Rede und es wurden seitenweise Fotos oder Gesuche von Menschen abgedruckt, die ihre Angehörigen suchten – Kinder ihre Eltern, Eltern ihre Kinder, heimgekehrte Soldaten ihre Familien. Unzählige Menschen hatten sich in diesem schrecklichen Krieg verloren. Viele Fotos von Bahnsteigen, an denen Züge mit heimgekehrten Soldaten ankamen, Umarmungen, Freude, aber auch Kindergesichter, die diesen fremden Mann, um den sich fortan alles drehen würde, am liebsten wieder weggeschickt hätten. Eines Tages kam auch Vater Winkler wieder, ein kleiner, grauer, erschöpfter Mann, der wenige Jahre später starb.
So ging es auch meinen großen Schwestern, die fünf und acht waren, als unser Vater aus dem Krieg zurück kam. Er war als Besatzer in Norwegen gewesen, wo er kaum mit dem Krieg in Berührung gekommen war und nach Herzenslust jagen und fischen konnte. Von diesen Erlebnissen hat er bis ins hohe Alter geschwärmt. Wie viele Männer gab es, die zerschossen waren, denen ein Bein, ein Arm, ein Auge fehlte, die Narben in den Gesichtern trugen. Sie waren stumm, ihr Blick war leer. Ich wusste damals noch nicht, was sie hinter sich hatten, ich sah nur ein unsichtbares Grauen, das sie einhüllte.
Aus heutiger Sicht war die Nachkriegsgesellschaft – trotz all der wiederauferstandenen Herrlichkeiten wie Kaffee, Butter oder Cognac – zutiefst traumatisiert, vor allem die Männer. Es war eine Gesellschaft, in der die maximale Angst unterwegs war, und die maximale Verdrängung, die nötig war, um nicht nur die schlimmen Kriegserlebnisse, sondern auch die Deportationen und die Konzentrationslager vergessen zu machen. Das Wort Auschwitz tauchte irgendwann auf, es gab vereinzelt Bilder in den Zeitungen, die nicht zu fassen waren. Die Berge aus Menschenkörpern, Haaren, Schuhen Brillen, Kleidern, Hosen, ausgebrochenen Goldzähnen – die Bilder schienen kurz auf, dann waren sie wieder weg. Es sollte fast zwanzig Jahre dauern, bis die Gesellschaft das zur Kenntnis nahm, was hinter diesen Bildern steckte. Es blieben allerdings auch viele übrig, unter ihnen mein Vater, die es bis zum Schluss nicht wissen wollten.
Immer wieder gab es Geschichten wie diese: Der Sohn von Bekannten war vollkommen verhungert aus dem Krieg zurückgekommen. Die Mutter hatte ihm alle Köstlichkeiten, die die Küche hergab, vorgesetzt. Da hat er sich so überfressen, dass er starb – wohl der sinnloseste von allen sinnlosen Kriegstoten.
Ein befreundetes Ehepaar meiner Eltern verlor nach Kriegsende ihren fünfjährigen Sohn. Er hatte beim Spielen auf einem Trümmergrundstück einen Blindgänger gefunden hatte, der explodierte. Der Tod ihres Jungen hatte die Eltern so entsetzt, dass sie monatelang nicht sprechen konnten.