Bei Winters
Tante Winter hantierte virtuos mit den Eisenringen auf ihrem Küchenherd. Je nachdem, welche Hitze sie brauchte, nahm sie Ringe heraus oder schob welche hinein, stocherte in der Glut und legte mit einer Zange Torf nach. Ins Feuer kamen nur die ganz trockenen Torfstücke, die eine Weile nahe am Herd gelegen hatten. Sie knackten und verwandelten sich funkenstiebend in Glut. Das Feuer war ein Moloch, der unentwegt Nahrung verlangte, die glühende Lunge der kleinen Küche. Wenn Tante Winter mit dem Kochen fertig war und das Essen nur noch warmhalten musste, kam zusätzlich zu den Ringen die mittlere runde Eisenscheibe über das Feuerloch und der Topf wurde an den Rand geschoben.
Winters hatten eine Tochter, sie hieß Karola und war ein, zwei Jahre älter als ich. Karola war nicht wie andere Kinder, sie konnte nicht richtig sprechen, zum Beispiel brachte sie kein K oder G heraus und sagte dafür T. So kam es, dass Karola bei uns zuhause Tarola genannt wurde, immer mit einem mitleidigen Schmunzeln, weil sie ja nichts dafür konnte.
Karola Winter war ein liebes Mädchen, ich spielte gerne mit ihr. Wir waren Puppenmütter, die Kleider nähten und in der Sandkiste Kuchen buken. Nachmittags gab es Kakao bei Winters, wenn wir ihn tranken, hockten wir auf der Torfkiste neben dem Herd, die auch als Sitzbank diente. Dort saß auch immer Karolas stummer Vater mit schwarzen, traurigen Augen. Karola hatte die gleichen wie er, nur lachten und leuchteten sie, wenn wir zusammen spielten. Tante Winters graues Gesicht wurde ganz weich, wenn wir Spaß hatten und fröhlich waren.
Nachmittags musste Karola oft zu Behandlungen, die sie brauchte, weil sie eben nicht ganz normal war. Früher hätte man was ganz anderes mit der gemacht, sagte mein Vater einmal, und als ich fragte, was denn, machte er nur eine wegwerfende Handbewegung. Dieses Früher, über das man nicht sprechen durfte, hatte mit dem Adolf zu tun, mit dem Krieg und mit dem bösen Russen, der unser Feind war, der hinter dem Eisernen Vorhang Bomben und Geschütze gegen uns in Stellung brachte und Spione einschleuste.
Bei uns zuhause wurde nicht mit Torf geheizt, sondern mit Eierkohlen und Briketts. Torf benutzten nur die Flüchtlinge und die Bauern, also Leute, die ärmer waren als wir. Winters waren zwar arm, schienen aber keine Flüchtlinge zu sein, davon war nie die Rede. Onkel Winter hatte einen schmalen, langen Kopf, er war wie seine Frau grau im Gesicht und ich war mir nicht sicher, ob er böse oder traurig war. Meistens saß er neben dem Herd und starrte vor sich hin, blickte kaum auf, wenn ihm Kaffee oder Essen hingestellt wurde. Uns Kinder beachtete er nicht, wir trauten uns auch nicht zu mucksen in seiner Gegenwart. Manchmal, wenn der Ärmel seiner Jacke hochrutschte, konnte man sehen, dass eine Reihe von Zahlen auf seinen Unterarm tätowiert war.
Das sind Zigeuner, sagte mein Vater einmal, ein paar von denen sind ja davongekommen. Was meinte er damit? Davongekommen, vor was denn? Auf solche Fragen gab es keine Antworten, deshalb stellten wir sie auch nicht. Und Zigeuner? Die kannte ich aus einem Bilderbuch. Sie zogen in Wohnwagen umher, die Frauen hatten lange schwarze Haare, weite bunte Röcke und trugen goldene Ohrringe. Die Männer waren dunkel und hart, alle hatten schöne, schwarze Augen. Das mit den Augen konnte hinkommen, aber sonst? Tante Winter trug die grauen Haare kurz mit Dauerwelle, wie meine Mutter, und die gleiche graue Kittelschürze. Niemals sah ich einen bunten Rock oder Ohrringe an ihr. Trotzdem beschäftigten mich die Zigeuner. Meine große Schwester hatte mir mal ins Ohr geflüstert, dass Zigeuner so blonde Kinder wie mich stehlen würden und sie in ihren Wohnwagen mitnähmen. Ich wünschte mir heimlich, dass mir das passierte, und stellte mir ein Leben voller Abenteuer vor.
Als ich zur weiterführenden Schule kam, verloren Karola und ich uns aus den Augen. Ich wüsste gerne, was aus Winters geworden ist, aus Karola, ihrer lieben Mutti und dem Vater mit den traurigen Augen und den Zahlen auf dem Unterarm.